Ralf Weingart
(im Katalog der Ausstellung "nearby", Schloss Plüschow, 2001)
[englisch]
Udo Rathkes Arbeiten entstehen aus dem Bestreben, innere und äußere Naturerfahrung in einem Abstraktionsprozess künstlerisch zu reflektieren und in ihrem Emotionsgehalt gleichnishaft zu verdichten. Nach einem Graphikstudium hat sich Rathke im Laufe der Jahre von der menschlichen Figur ebenso gelöst wie von gegenständlich-räumlicher Darstellungsabsicht. So verweigert seine ganz aus der Farbe gestaltete Acrylmalerei auf unregelmäßigen, fundstückartigen Papiergründen jeden konkreten, abbildhaften Gegenstandsbezug. Bereits in der Grafik - vorzugsweise Kaltnadelradierungen - entdeckt er Landschaft als zentralen Gestaltungsmodus seiner Kunst, angetrieben, wie Miro Zahra schreibt, von "der Sehnsucht nach der Verwirklichung des Menschlichen im Einklang mit der Natur". 1 In der individualisierten, als anschauliche Einheit erlebbaren Landschaft vergegenwärtigt nicht erst die Kunst des 19. Jahrhunderts eine zunehmend entfremdet empfundene Natur als umfassende, den Menschen einschließende Ganzheit. Rathkes, wie er es ausdrückt, "Ergründen universeller Zusammenhänge" 2 knüpft in innerer Affinität zur deutschen Romantik an dieses Konzept der Landschaft an, überträgt es jedoch in eine zunehmend selbstbezügliche Farbmalerei. Inspiriert von den Ideallandschaften eines Lorrain und Poussin fügen sich ältere Arbeiten in der kompositionellen Tektonik ihres sensibel austarierten Farbgefüges zu durchaus bildmäßiger Harmonie. Diese löst sich in der Folge zusehends auf, während sich der suggestive Stimmungswert der offener werdenden Farblandschaften intensiviert. Getragen von empathischer Sensibilität scheinen in der Natur erfahrene Stimmungsgehalte mit emotionalen Grundbefindlichkeiten zu korrelieren. Die Bevorzugung vergleichsweise kleiner Formate konzentriert den Blick zu meditativer Kontemplation. In der Spannung zur unverstellten, ja betonten Materialität der Farbe entstehen zeitenthobene Existenzbilder, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einer Ahnung mythischer Dauer verschränken.
Anregungen Per Kirkebys aufgreifend, reflektiert das Prinzip der Schichtung, Überlagerung und Durchdringung übergänglicher wie kontrastierender Farbkomplexe die Suche nach einer naturhaft gewachsenen Form, erlaubt Freiräume für ein absichtsloses Sichereignen. An die vehemente Strichführung der Radierung erinnernde, sgraffitoartige Liniengravuren, die sich zunehmend ins Skripturale verflüssigen, aktivieren das kreative Potenzial von Zerstörung, evozieren im Aufbrechen der Farbschichten sowohl Belebung und Vitalisierung wie Beschädigung und Verletzung. Sie zielen wesentlich auf die Eliminierung bildhafter Geschlossenheit, verweisen - ähnlich wie farbiges Dunkel - auf die bedrohliche, destruktive Seite innerer wie äußerer Natur, bezeugen ein krisenhaftes Bewusstsein um die Unmöglichkeit menschlicher Existenz in konfliktfreier Harmonie.
In den neueren Arbeiten wird die Assoziation des Landschaftlichen flüchtiger, unbestimmter, das Interesse an der Komposition schwindet, ebenso räumliche Anmutungen, der Duktus linearer Einschreibungen wird weicher, gestischer. Die Beschränkung auf wenige, flächig ausgebreitete und dabei reich nuancierte Farbwerte, vor allem Blau - die Sehnsuchtsfarbe schlechthin -, nähert sich häufig einer Monochromie, die wie in der Grafik mit abgestuften Tonwerten arbeitet. Neben Blättern von spröder, kühler Helle stehen dunkle, geheimnishafte, neben verhaltenen, dunkel übermalten, in denen Erinnerung zu verlöschen scheint, andere, die den betörenden Reiz der Farbe inszenieren, vorzugsweise ein unwirklich intensives Ultramarin. Als dessen Gegenpart versiegelt zunehmend großflächig eingesetztes Graphit die Oberflächen in metallischem Glanz, gleich materialisiertem Licht, das sich wie dünner Bleiniederschlag über die Farbflächen legt.
Die Konzentration auf Weniges schafft prägnante Farbklänge von suggestivem Stimmungsgehalt. Vielfach lassen eingerissene, unregelmäßig verlaufende Ränder und scharfrandige Löcher - Verletzungsspuren bei der Arbeit mit dem Spachtel - die dinglich-materielle Bruchstückhaftigkeit der dünnen, farbüberkrusteten Papierhäute zur Metapher relikthafter Erinnerungs- und Empfindungsspuren werden. Mit der Dreierserie Elementare Landschaft I-III von 2001 findet Rathke in monumentalisiertem Format zu gelöster Weite und steigert zugleich die emotionale Intensität der farbigen Akkorde zu gleichnishafter, existenzieller Gültigkeit und Dichte.
Seit einigen Jahren experimentiert Rathke auch mit den bildgestaltenden Möglichkeiten des Computers als Medium einer Malerei mit anderen Mitteln. Seine jüngste computergenerierte Arbeit Nach Lorrain beschwört die romantische Sehnsucht des individualisierten Subjekts nach mythischer - zumindest in der Kunst noch erfahrbaren - Einheit von Mensch und Natur im Rückgriff auf eine klassische Ideallandschaft Claude Lorrains, h. d. im Bewusstsein eines doppelten Verlustes. Die paradoxe Hoffung auf eine erneute Möglichkeit seiner flüchtigen Aufhebung im Medium der Kunst schöpft Radtke im Rekurs auf die Tradition: Noch in seiner fleckhaften Auflösung zu einem amorphen Traumbild bewahrt das kunstgeschichtliche Zitat die ornamentale Schönheit des Urbildes wie ein fernes Echo und lässt seine verzauberte Lichtstimmung verwandelt aufleben in einer fast unmerklichen Farbsukzession. Im langsamen, endlosen Zeitfluss dehnt sich das malerische Verfahren der Farbüberlagerung zu einer realen Bildmetamorphose, die im Einsatz modernster Technik naturhafte Prozesse von suggestivem Stimmungsgehalt imaginiert.