Ralf Weingart
Liquid image
im Katalog zur Ausstellung "Liquid Image", Inter-Galerei, Potsdam, 2006

Der Titel der Ausstellung liquid image spielt in seiner assoziationsreichen Mehrdeutigkeit vor allem auf die Vorstellung einer fließenden, veränderlichen Bildergestalt an, auf eine beständige, reale oder potenzielle Verwandlung von Form- und Farberscheinungen.

In besonderer Weise trifft das auf Radtkes Videoloops zu, die sich am weitesten von tradierten Bildgattungen wie der Tafelmalerei, der Handzeichnung oder dem Druck entfernen. Der Künstler bezeichnet sie programmatisch als Videopainting, alsoVideomalerei’. Sie verdeutlichen das künstlerische Verfahren und die methodische Struktur der Arbeit Radtkes am PC besonders anschaulich. Zum Ausgangspunkt des Gestaltungsprozesses werden hier im Internet vorgefundene Bilder oder gescannte Fotos als Reflexe der uns umgebenden Welt. Deren vermeintlich objektive Realität erscheint dabei gebrochen im Modus des Bildes, das nicht als realistisches Abbild auftritt, sondern als Metapher einer nurmehr fragmentarisch und mittelbar erfahrbaren Realität. Dennoch negiert oder ignoriert Rathke die Erscheinung der Dinge nicht, sondern hält - wie indirekt und gleichsam ‚verdünnt’ auch immer – untergründig Verbindung zu ihr.

Aus einem potenziell unerschöpflichen, sich ständig vergrößernden Bildreservoir, das genauso vielfältig, unüberschaubar und ausschnitthaft bleibt wie die moderne Wirklichkeitserfahrung und die Versuche ihrer visuellen Aneignung, wählt der Künstler sein Arbeitsmaterial aus. Mit dieser subjektiven Setzung, dem Kunst stiftenden Akt der Wahl, wie ihn Marcel Duchamp definiert, beginnt der eigentliche künstlerische Prozess. Die ausgewählten Bildmotive werden am Computer bearbeitet, verlieren durch Manipulation unterschiedlichster Art wie Vergrößerung, Überlagerung, Veränderung der Farb- und Helligkeitskontraste u. a. ihren ursprünglichen Abbildungscharakter und klar definierten Gegenstandsbezug. Dabei wird der subjektive Eingriff der bewussten, abstrahierenden Verfremdung zugleich relativiert und reglementiert durch die Eigengesetzlichkeit der technisch gesteuerten Abläufe. Sie sind als solche nur begrenzt beeinfluss- und kalkulierbar und bringen in ihrer Eigendynamik ein objektives Moment in den Gestaltungsprozess ein.

Eindeutig benennbarer Gegenstandsbezüge weitgehend entkleidet, entsteht als Resultat der Eingriffe des Künstlers und der eingesetzten Bearbeitungstechnik ein Bildmaterial, das häufig die Vorstellung eines wie unter dem Vergrößerungsglas betrachteten Mikrokosmos erweckt, generiert aus namenlosen Bildpartikeln, die unterschiedlichste Assoziationsfelder eröffnen. Der Betrachter fühlt sich auf eine elementare Ebene zurückversetzt, in der die Erscheinung der Dinge in einem permanenten Prozess der Veränderung amorpher Form- und Farbmetamorphosen noch unfestgelegt und potenziell offen bleibt.

Die aus dem Ursprungsmaterial entwickelten, übergänglichen Farb- und Formerscheinungen werden zum Medium einer von Rathke als Malerei verstandenen, gestalterischen Arbeit, die sich im Stiften anschaulicher Bezüge auch als metaphorisches Gleichnis verstehen lässt für die Konstitution von Welt. Im Prozess der Bildfindung greift Rathkes computergenerierte Malerei zurück auf geläufige künstlerische Verfahren der Moderne. Als komplementäre Gegensätze und Ergänzung verbinden sich Fragmentierung, Verfremdung und Dekonstruktion auf der einen Seite mit Collage, Montage und kombinatorischer Neuschöpfung auf der anderen. Besonders deutlich wird dies im Verfahren des cut-and-paste, dem Ausschneiden und Einfügen von Bildelementen. Die formatbezogene, auf Ausgleich bedachte Ponderation der Farb- und Formkontraste belegt dabei eine ungebrochne Orientierung an klassischen Kompositionsprinzipien.

In den movingp paintings der zitierten Videoloops erscheint das Prinzip der Montage darüber hinaus verzeitlicht zu einer sukzessiven Folge von Farb- und Formbewegungen. Damit erweitert Radtke den traditionellen Bildbegriff entscheidend. Die Simultaneität des Tafelbildes, dessen Wahrnehmung gebunden bleibt an das Spannungsfeld von faktischer Gleichzeitigkeit des Gesehenen und sukzessiver Erschließung durch das Auge, wird hier aufgebrochen und abgelöst durch eine reale Folge unterschiedlicher Bildzustände. Das Bild erwacht in den Videoloops gewissermaßen zu unmittelbarer Lebendigkeit und nähert sich in seinem Bewegungsfluss dem Wahrnehmungsprozess selbst an, der auch statische Bilder erst im zeitlichen Nacheinander einer bewegten Blickspur aufnimmt. In diesem Zusammenhang könnte man von einer Befreiung der im traditionellen Bild kondensierten Zeit sprechen. Paradoxerweise ist es gerade die faktische Bildbewegung und -sukzession, die das Erlebnis von Ruhe und Dauer vermittelt und dem Bilderstrom der Videoprojektionen einen meditativen Zug verleiht.

Dessen ungeachtet steigert die skizzierte Verzeitlichung des Bildes die Flüchtigkeit seiner Erscheinung. Als computergenerierte Bildschirmprojektion bleibt es zugleich immateriell, in seiner Existenz ganz auf den Augenblick beschränkt. Die Analogie zur Musik ist offenkundig und findet verschiedentlich eine unmittelbare  Entsprechung in der Kombination der Videoloops mit Soundcollagen des Musikers Stephan Streck, die der flächenbezogenen Bewegung optischer Formen bewegte Klangräume zur Seite stellt.

Wie eingangs festgestellt, sind Rathkes neuere Videopaintings nicht als generelle Absage an traditionelle Bildgattungen und –techniken zu verstehen. Vielmehr setzt Rathke verschiedene Realisierungsformen von Malerei und Zeichnung nebeneinander ein und sucht sie füreinander fruchtbar zu machen. Gerade die Parallelität unterschiedlicher Bildmedien und ihr komplexes Zusammenspiel verleiht seinem Werk besondere Vielschichtigkeit. So treten neben die zitierten Videoloops auch traditionelle Handzeichnungen. Dabei wird das Medium der Zeichnung ausdrücklich nicht im Sinne von Vorstudien oder Vorarbeiten eingesetzt, sondern erfüllt eher die Funktion einer Reflexion und Ergänzung der Arbeit am Computer. Bezeichnenderweise entstehen diese Zeichnungen nicht selten unter dem Eindruck realer Naturerfahrungen, etwa der Beobachtung am Himmel ziehender Wolken.

Zwischen videoprojizierten und manuell ausgeführten Arbeiten stehen erstaunlich differenziert realisierte Prints computergenerierter Bilder. Vielfach knüpfen sie – ohne bloße Stills zu sein - unmittelbar an die bewegten Videoloops an und wirken – zu sequenzartigen Bildfolgen oder Bildpaaren kombiniert - wie Momentaufnahmen flüchtiger Wandlungsprozesse, können sich in Arbeiten wie  Cut and Paste jedoch auch zu tafelbildartigen Solitären verselbstständigen.

Sie schlagen in ausgeprägt zeichnerisch gestalteten Partien die Verbindung zur Gruppe der farbigen Handzeichnungen, die gegenüber den computergenerierten Arbeiten am stärksten materialisiert und verdichtet wirken.

Im gleichberechtigten Nebeneinander verschiedener Bildtechniken und Werkgruppen, die wechselseitig miteinander in Beziehung treten, scheint Rathke ebenso wie im Gestaltungsmotiv übergänglicher Bewegung der verlorenen Einheit einer seit Beginn der Moderne zunehmend als widersprüchlich, disparat und entfremdet erfahrenen Welt nachzuspüren.

Anknüpfend an die Intentionen der Romantik, bildet das Zusammenführen von Getrenntem und Gegensätzlichem wie es gleichermaßen in der äußeren - physischen - und der inneren - psychischen - Welt begegnet, einen grundlegenden Zug der Arbeiten Rathkes. So deutet sich gerade in den Videopaintings und Colourprints nicht zuletzt eine anschauliche Versöhnung von Technik und Natur an. Ungeachtet der hochtechnisierten Umsetzung wecken ihre veränderlichen Form- und Farbmetamorphosen die Erinnerung an naturhafte Wachstums- und Veränderungsprozesse, zugleich ergeben sich landschaftliche Assoziationen zu Horizont und Himmel, Wasser und Meer, ja selbst Sonnenuntergängen. Dem widerspricht nicht der bewusst artifizielle, ja virtuell anmutende Charakter der Farb- und Formerscheinungen, der vor Naturverkitschung und –klischee bewahrt. Ähnliches gilt für das bildbestimmende Moment der Unschärfe, die klar fassbare Kontur- und Formgrenzen verweigert und ohne eindeutige Festlegung schwankt zwischen naturhafter und technischer Wirkung. Sie bewahrt einen schmerzhaften, bisweilen auch bedrohlichen Zug, der auf destruktive, zerstörerische Potenziale verweist. Dies unterstreicht das Paradoxon, dass Rationalität und Objektivität der eingesetzten technischen Realisierungs- und Gestaltungsverfahren einer Intensivierung der subjektiven Ausdruckgehalte dienen.

Dem entspricht die Tendenz zur ungegenständlichen Abstraktion, die vor allem der Farbigkeit eine herausgehobene Bedeutung und gesteigerte emotionale Wirkung verleiht. Vor allem in den Bildpaaren bzw. –sequenzen dominiert der farbige Urkontrast von Rot und Blau, deren gegensätzliche anschauliche und gefühlsmäßige Wirkung eine polare Spannung von Warm und Kalt, Vordringen und Zurückweichen, Dramatik und Beruhigung aufbaut. Die Farberscheinung der Videopaintings und Colourprints verbindet zudem eine eigentümliche Künstlichkeit und Immaterialität mit irrealer Intensität, Brillanz und Strahlkraft. Die Voraussetzung dafür liegt in der Wirkung des Lichtes, das der Farbe - mittelalterlichen Glasfenstern ähnlich - wie inkorporiert erscheint. Die Bildfarben kommen aus sich selbst zum Leuchten, erscheinen jedoch gebunden an eine modern gefasste Hell-Dunkel-Spannung. Transponiert in ein dezidiert technisches Medium, bleiben sie nach einer Goetheformulierung ‚Taten und Leiden des Lichtes’, tauchen auf aus unbuntem Dunkel und verlöschen in weißlicher, blendender Helle. In der Durchdringung mit dem Licht löst sich die Farbe zugleich aus der Bindung an die Fläche, vermag sich in den Raum und seine potenziell unausmessliche Tiefe zu entgrenzen.

Dass dabei gerade in der suggestiven Farbwirkung das Künstliche, Artifizielle zum Platzhalter für das Übernatürliche gerät, mag man in Anlehnung an Rathkes Romantikbezug als moderne Sehnsuchtsmetapher deuten.

Literatur:
Kornelia Röder in: Udo Rathke – moving painting, Katalog zur Ausstellung, Galerie Hartwich/Sellin, 26. November bis 25. Januar 2005