Matthias Bleyl
(aus dem Katalog zur Ausstellung "Sehnsucht nach Italien", Heidelberger Kunstverein, 1995)

...Wenn eingangs gesagt wurde, daß einen Künstler heute, im Gegensatz zu früheren Zeiten, nichts mehr daran hindern kann, seiner Sehnsucht nach Italien nachzugeben, so galt das in erster Linie für westliche Künstler. Es berücksichtigt nicht, daß es die gleiche, wenn nicht stärkere Sehnsucht auch und gerade dort gab, wo ihr nicht nachgegeben werden konnte. Udo Rathke, der immerhin 35 Jahre in der DDR lebte und allenfalls davon träumen konnte, muß es als gravierenden Einschnitt empfunden haben, als er 1993 ein Stipendium der Villa Massimo erhielt und von Mecklenburg-Vorpommern nach Rom ging. Er empfand den Ortswechsel in erster Linie als Zeitwechsel, was nicht als Sprung in die Vergangenheit mißzuverstehen ist. Die Intensität seines Erlebnisses beschreibt er so: »Der wesentliche allgegenwärtige Eindruck von Rom, von Italien, war für mich die Gleichzeitigkeit von sprudelnder Lebendigkeit und einer großartigen ,Verwahrlosung’ (wie es Wilhelm von Humboldt im vorigen Jahrhundert einmal nannte. Bewahren, behüten, konservieren - diese Formen der Absonderung der Geschichte von der Gegenwart scheinen dort unbekannt«. Dies darf als subjektive Sichtweise bestehen, die keineswegs verallgemeinert werden kann, angesichts gewaltiger Restaurierungsanstrengungen, auch wenn diese aufs Ganze gesehen kaum ins Auge fallen mögen. Er empfand in Rom, weit intensiver als er es jemals in Berlin, wo er studiert hatte, empfinden können, die gleichzeitige Präsenz verschiedener Zeiten der Geschichte, in der er sich befand. Das bedeutete jedoch nicht Leben in einer Vergangenheit, sondern vielmehr im Zeitstrom. Es mußte sich also bei dem sonst auf dem Land lebenden Künstler in der geschichtsgetränkten Metropole ein intensives Gefühl für die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart einstellen. Miro Zahra schreibt daher zu recht: »Es ist nicht die Sehnsuch der Vergangenheit, die Udo Rathke antreibt, sondern die Sehnsucht na Verwirklichung des Menschlichen im Einklang mit der Natur, und nicht zuletzt die Sehnsucht nach dem eigenen Ort in der Gegenwart«. Dies beschreibt eine grundsätzlich romantische Vorstellung, und tatsächlich ist Rathkes Affinität zur Kunst der deutschen Romantik evident. Eines seiner Bilder mit einem für seine Verhältnisse recht großen Format trägt den Titel Carl Philipp Fohr gewidmet, bezieht sich also auf den frühverstorbeneni Romantiker aus Heidelberg, dem lediglich zwei Schaffensjahre in Rom vergönnt waren.
Rathkes Bilder entstanden auf simplen Farbträgern, nämlich meist Papiertüten verschiedener Größe, die geöffnet und geglättet wurden. Dabei kam es zu - unumgänglichen oder gewollten - Unregelmäßigkeiten im Kontur. Die flächig, wie linear aufgebrachte Malerei verdankt sich oft einer Mischtechnik verschiedender Medien, z.B. Acryl, Graphit, Kreide und Filzstift, wobe es zu Überlagerungen, aber auch zu Abschabungen, evtl. mit weiteren Überagerungen, oder sogar zu sgraffito-artigen Verletzungen der Farbschicht kommen kann: »Sein Arbeitsprinzip, gleichzeitig zu zerstören und zusammen zu fügen, übereinander zu schichten und das Papier bis zur Unkenntlichkeit mit dem Geflecht von Linien zu überziehen, demonstriert die Suche nach einer Form, die organisch gewachsen ist; Es ist seine Suche nach einer ,Restform’, die sich aus Widerspruch zwischen natürlichem Verlangen nach Harmonie und ihrer gleichzeitigen Zerstörung ergibt«. Mit dieser Mischung aus Absicht und Zufall steht Rathke dem seit Jahrzehnten ebenfalls in Rom tätigen Amerikaner Cy Twombly nicht fern, wenn auch vielleicht ungewollt, jedenfalls aber durch die deutlichere Kompositionsabsicht und die stärkere Farbbezogenheit zu Ungunsten des Skripturalen als Europäer zu erkennen. Es entstehen, und zwar aus einer gewissen romantischen Grundeinstellung heraus, »abstrakte Landschafte«, die meist keine formale Ähnlichkeit mit Gemälden der Romantik aufweisen, ihnen aber doch geistesverwandt scheinen. Das kleinformatige Bild Terracina nimmt im Titel einen klaren Bezug auf den im südlichen Latium an der Via Appia gelegenen Badeort und auch die Helldunkelverteilung läßt Landschaft denken, auch wenn keine solche zu sehen ist. Intensives Rot steht nicht für einen Sonnenuntergang. Noch deutlicher erscheint die »Lan lichkeit« bei dem Bild Zwischen den Meeren, dessen Titel wohl in Erinnerung an eine Fahrt von der tyrrhenischen zur adriatischen Küste über das noch schneebedeckte Appenningebirge hinweg gefunden wurde. Farblich mag sich dieser Umstand in einer gewissen Kühle ausdrücken. Dem Außenstehenden scheint sich die Fahrt von einer Küste zur anderen eher in der - sicher nicht daraufhin gestalteten - negativ zu lesenden, unregelmäßigen Unterkante des Bildes anzudeuten, deren Verlauf von links unten wie über mehrere Erhebungen eines Gebirges aufzusteigen scheint, um dann nach rechts langsam und flach abzusinken.
Nun illustriert Rathke jedoch keineswegs reale Eindrücke, die er einmal gehabt hat. Seine Bilder entstehen vielmehr, ähnlich wie die Bilder Tvvomblys, aus einer ihnen eigenen Logik, aus den Kräften des entstehenden Bildes selbst heraus. Titel werden, wenn es sie überhaupt gibt, nachträglich und rein assoziativ gefunden. Allerdings kann man unterstellen, daß dieser Findung bereits eine Stimmung vorausgeht, der sich sowohl das Bild als auch der nachträgliche Titel verdanken.
Die aus der über die zeitliche Distanz hin gespürte Affinität zur deutschen Romantik und ihre Wichtigkeit für die eigene Bildfindung drückt sich deutlich in einem weiteren Zitat des Künstlers aus: »Die Lebendigkeit der Ruinen war es auch, welche die Künstler der Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder inspirierte und die sie zu einem zentralen Thema ihrer Arbeit werden ließen. Die römische und italienische Landschaft wurde geradezu zu einem Symbol ihrer Weltanschauung. Der Anblick dieser Landschaften war der ideale Katalysator für die Entwicklung ihres Bildgedankens, der immer wichtiger war als die abbildhafte Wiedergabe eines Originals. Nicht die Schilderung gesehener Details, sondern das Ergründen von universalen Zusammenhängen ist das Anliegen, nicht der emotionale Überschwang, sondern das empirische Empfinden ist wichtig. Daraus erwächst die tektonische Logik in den Bildern, es entstehen die ,idealen’ Landschaften oder ,imaginären’ Ansichten«. Im wesentlichen beschreibt dies auch die gestalterische Verbindlichkeit für Rathkes eigene, nicht-abbildlichen Werke.